Offene Enden – Predigt zur Eröffnung

Allgemein

Open Ends 2012

Offene Enden

Eine skulpturale Vision in der Apsis St. Thomas

Predigt zur Eröffnung
Pfarrer Hartmut Diekmann

Der Sämann

Der Friede Gottes sei mit Euch allen

Liebe Gemeinde,
Wir wenden uns jetzt den offenen Enden zu. Ob es überhaupt angemessen ist, Euch zusammen gewürfelte Schar mit Liebe Gemeinde anzusprechen –ich weiß es nicht genau. Ich lasse es für den Moment offen.
Jetzt sind ersteinmal die offenen Enden dran.
Richtet Eure Blicke einmal durchs Kreuz und ums Kreuz herum auf die beiden Hörner in der Apsis.
Ganz deutlich sichtbar haben die beiden Hörner vorn offene Enden, und die Himmelsleiter in unserem Rücken ebenfalls. Eingänge und Zugänge zur himmlischen Dimension.
Wir hatten uns einmal ausgerechnet, die Hörner würden hier am Pfingstfest zum ersten Mal gezeigt. Dann hätte Freda sie vielleicht rechts und links neben dem Altar aufgerichtet und ich hätte Worte aus dem 118. Psalm vorgelesen: Der Herr ist Gott, der uns erleuchtet. Schmücket das Fest mit Maien bis an die Hörner des Altars. Aus dem Maiengrün würden dann rechts und links die Hörner emporwachsen.

Aus verschiedenen Gründen ist uns das nicht gelungen. Stattdessen hängen die Hörner jetzt hinter dem Altar mit seinem mächtigen, wenn schon nicht eisernen, so doch metallischen Kreuz. So sieht man die Hörner selten in ihrer ganzen Größe, eher verstellt und wie nicht vollendet.
Vielleicht hat Freda ihre Installation deshalb Offene Enden genannt, um auf das Vorläufige und nicht Vollendete hinzuweisen, vielleicht auch um uns unseren abwegigen Phantasien freien Lauf zu lassen
Auf der Einladungskarte sieht das Horn aus wie ein westfälischer Schinken, auf den Stäben in der Apsis ruhend wie das Maul des Moby Dick oder wie eine Posaune, für die der geeigneter Bläser bisher noch nicht geboren worden ist. Mal werden sie gefressen, mal fressen sie selber, mal warten sie auf ihren eigenen, himmlischen Auftritt.

Das hintere Horn knickt irgendwie nach vorne ein, als ob es verzweifle, dass der Meister-Spieler noch nicht gefunden sei, kann es sein, dass die Werke sich nicht damit abfinden wollen, dass die Enden offen sind, dass sie leiden – und nicht wir.

Aber vielleicht reden sie nur miteinander, auf jeden Fall sind sie zu zweit. Wie in diesem Gottesdienst überhaupt fast alles doppelt ist. Zwei Bilder hängen einander gegenüber, leihen sich gegenseitig ihre Namen – zweimal einhalb, die Musiker sind zu zweit, manchmal noch mehr. Bei Freda sind es immer zwei, gespiegelt, concav-convex, hoch relief oder basrelief, aber immer in dieser bestimmten Distanz zueinander. Baudrillart bemerkte das Erscheinen der Doppeltürme, statt des einen Wolkenkratzers. Es beschrieb das Phänomen am World Trade Center, wie in ihm der Kampf um die alleinige Höhe einer Kommunikation auf Distanz gewichen sei. Wolkenkratzer berühren sich nicht, sagt Louise Bourgeois in ihren Aphorismen, denen Freda folgt. Sie haben diese nahe Distanz zu einander, sie hüten ihre Geheimnisse durch Verdoppelungen. Gerade Verdoppelungen sind offene Enden, die es sich nur nicht anmerken lassen. Und wir sind auch froh darüber.

Offene Enden sind uns nämlich egal. Leider. Seit Schubert lieben wir sie, lieben wir alles Unvollendete, wir publizieren aus aufgegebenen Werken, Romane, die ein Ende haben, sind uns ein Gräuel .Wir schwelgen in der Wahrheit, der Weg sei das Ziel. Wir fürchten uns vorm Ankommen. Alle Tatorte im Fernsehen sind Schnitzeljagden, so lange sie laufen, an das Ende, das sind dann bieten, glaubt sowieso niemand mehr.

Für diesen Zusammenhang bildet sich gerade ein neuer Begriff heraus: zielführend. Meistens in der Verneinung als nicht zielführend, fast immer in der Bedeutung von zweckmäßig, denn ans Ziel wollen wir sowieso nicht kommen.
Es klingt nach Don Juan, dem Verführer, der nicht aufhören kann zu verführen, der auch gar kein Ziel kennt, 1003 in Spanien, ungerade Zahl, muss noch eine drauf, aber unser Der Weg ist das Ziel kommt ganz ohne dessen Leidenschaft aus, ohne seine Erotik, ohne sein Gewinnen- und Besiegenkönnen – sondern unser Der Weg ist das Ziel ist nur als ein Weiterwurschteln veranstaltet, um nur nicht Rechenschaft geben, Bilanz ziehen zu müssen.

Unser Alltag erscheint daher wie eine romantische Unendlichkeit aber ohne Romantik. Ich meine jene Figuren der Romantik, die nie zur Erfüllung kommen, weder Don Juan, noch der romantische Nachtwächter, der jedes Mal vor Mitternacht das Messer hebt, um es sich ins Herz zu stoßen. Doch dann schlägt die volle Stunde und seine Hand bleibt erstarrt in der Luft und er kann sich den Tod nicht geben. Nun wartet er bis zur nächsten Nacht, und dann wieder zur nächsten – seine Reihe offener Enden. Am Parodistischen erscheint diese Idee bei Jean Paul, der seinen Held in einen Brunnen pinkeln lässt, um es dann die ganze Nacht rauschen zu hören in der Meinung, das sei immer noch er.

Und dennoch steckt im Offenen ein ganz großer Segen. Wenn nämlich das Offene das Ziel nicht ersetzt sondern im Auge behält.

Dazu müssen wir zurück zum Sämann, von dem wir vorhin gehört haben. Mir ist der Typ vollkommen rätselhaft, unheimlich – obgleich alles so normal aussieht.
Ich weiß nicht, ist er unsicher, unfähig, großzügig, vergeudend, ein Nichtskönner oder Besserwisser? Was bedeutet es, dass er so wild mit den Körnern um sich wirft? Hat er kein Sparkonzept, gibt es keine Arbeitskontrolle?

Eines aber würde ich nie machen: Ich könnte ihn nie Landarbeiter nennen. Von der Tätigkeit, die wir über alles lieben, hat er so gar nichts: er ist kein Arbeiter und er arbeitet nicht. Und gerade deshalb verstehen wir ihn so schlecht in seiner Tätigkeit.
Er steht unter uns fremd dar und dumm zugleich, denn hier stößt er gegen einen Punkt, in dem und an dem wir einmal alle einig sind: Künstler oder Kirchler: Wir meinen nämlich, wir wären alle Arbeiter. Geistige oder körperliche Arbeiter. Hand- und Kopfarbeiter.
Es ist ein Desaster, das sich überall eingenistet habt, und da wir sowenig Notiz voneinander nehmen, hat der Künstler keine Ahnung, was in der Kirche los ist, und umgekehrt genauso wenig..

Erst einmal Kirche.

Wir in der Kirche sind Spitze was das Konzept des Arbeitens betrifft. In der Kirche gelten mehr Tätigkeitsfelder als Arbeit denn in irgend einer anderen gesellschaftlichen Gruppe: Bei uns gibt es Seniorenarbeit, Frauenarbeit, Mütterarbeit, Jugendarbeit, Freizeitarbeit, Konfirmandenarbeit, Kinderarbeit – nur noch in der Kirche erlaubt, sonst verboten – Gottesdienstarbeit, Bibelarbeit, Freizeitarbeit, bestimmt auch noch Gebetsarbeit – ihr versteht schon, bei uns wird immer nur gearbeitet, um nicht zu einem Ziel kommen zu müssen. Um es kurz zu machen, denn es quält: Es ist ein Ausdruck frommen Weiterwurschtelns. Kein Ziel – nur arbeiten – offene Enden.

Wie es um die Künstler und ihre Tätigkeiten bestellt ist, überlasse ich lieber den Nachforschungen der Künstler selber. Ich weiß nicht, ob die Vorstellungen von Malerarbeitern und Schreibarbeitern bereits aus dem Handwerklichen ins Künstlerische übergewechselt sind. Aber den Kunstarbeiter gibt es schon. Den begriff habe ich schon gelesen. Dieser schafft inzwischen nur noch selten Werke, meistens sind es Arbeiten. Arbeiten auf Papier, Arbeiten auf Leinwand. Weil ein Werk ist ein geschlossene Ende, Arbeiten kann man unendlich fortsetzen, man muss sie nur ordentlich nummerieren.

In Katalogen findet sich zudem fast unter jeder künstlerischen Biographie: lebt und arbeitet in Paris, Barcelona, Osnabrück. Immer schießt es mir durch den Kopf: was ist das für eine schäbige Art, Lebenswelt und künstlerische Welt voneinander zu trennen. Es klingt nach Angestelltendasein: der Künstler lässt nach 17 Uhr den Pinsel fallen, weil nun das Leben beginnt. Und ich denke: Hier hat die Arbeit längst gesiegt.

Nur der Sämann ist noch von der alten Schule. Ihm geht es nicht ausschließlich darum zu säen, sondern er will auch Ergebnisse, er will etwas sehen, er will zum Schluss ernten. Dafür nimmt er allerhand in Kauf. Vielleicht liegt es daran, dass dieser Sämann alles in allem ist.
Er ist Gott, der sein Wort unter die Menschen wirft.
Er ist der Priester, der Prediger, der Prophet, der ihm dabei hilft.
Es ist der Künstler, der eine Idee in eine Fülle verschiedener Materialien gießt. Er ist dabei ein ebenso großer Vergeuder wie Gott, und die Propheten, wie ein Schriftsteller, wie alle diejenigen, die nicht zögern, ihre Perlen auch vor die Säue zu werfen, weil ihnen zur Verwirklichung ihres Anliegens buchstäblich nichts zu teuer ist.

Was schert den Sämann der Fels, die Dornen, der Weg. Sie alle werden mitbedacht, ihnen allen wird vorgelegt, sie alle werden gesegnet, denn wenn sich in der Dürre auch nur eine einzige Stelle findet, die die Frucht reifen lässt, dann ist ja schon alles gewonnen.
Es wäre ein Witz, wollten wir sagen, für den Sämann ist der Weg das Ziel. Er stört sich am Weg nicht, sondern behält über Felsen, Dornen und Weg das wogende Feld im Auge.
Das offene Ende kann unendlich weit weg sein, die Mühen sich bis ins Unendliche ausdehnen, aber dies lässt die Enden nicht verschwinden.

Ich erinnere an Gustav Flaubert, der Seiten in seinen Romanen umgeschrieben hat, weil er ein Komma versetzen musste. Flaubert ging absurd weite Wege, aber er hatte unendlich viel mehr vor Augen als nur den Weg. Er war ein ähnlicher Vergeuder wie der Sämann, der viel verschleuderte um noch mehr zu erreichen. Das Säen ist eine Tätigkeit, die lässt sich nicht rationalisieren. Das Säen wie die Kunst lebt aus der Fülle, die es nicht hat Ich sollte vielleicht sagen, beide leben aus der Gnade, die sie nicht haben. Ich könnte auch sagen, beide haben wie die Himmelsleiter ein Ziel, das zwar nicht erreichbar, aber doch da ist. Oder beide sind wie die Hörner, von deren Tönen wir nichts vernehmen, die aber doch ganz unerhört mächtig wären, wenn der Meister zu spielen begönne.

Amen

zu Offene Enden