NIEMEINLAND
Michael Schindhelm, gekürzter Text im Leporello WÄRTS, 2001
NIEMEINLAND Jemand, eine Frau, hat gerade das Fernglas herunter genommen. So, wie ihr Gesicht da am Rahmen lehnt, erinnert sie mich, durch den konspirativen Schleier, der irgendwo zwischen ihr und mir schwebt, an eine Marienikone. Byzantinischer Blick, während ich mich gleich zwischen mehreren Unmöglichkeiten entscheiden muss: Gehen, Stehen, Sehen – reine, in ihrer Reinheit unerreichbare Zustände. Die Unschärferelation des Besuchers. Je mehr er geht, um so weniger steht und sieht er. Je mehr er sieht, um so umso weniger steht und geht er. Sehen. Bilder einer Ausstellung. Eyes wide shut. Die Frau mit dem Fernglas. Die Umrisse ihres Gesichts jetzt minimalinvasiv in die Leinwand geritzt. Neben ihr ein ornisterbeschwerter Rücken. Der Mensch, der dort geht – geht. Er zögert keinen Augenblick mehr. Der Abschied ist nicht im Plan gewesen. Eben noch hier gewesen, und schon vor der Tür, durch die ein seltsames Weiß hereintritt, was kein Licht sein muss. „So leben wir und nehmen immer Abschied“. Das ist lange her. Inzwischen leben wir ohne Abschied. Niemand kommt an, um zu leiben, jeder kommt an, um zu gehen.
Gehen ist Hitze und Kälte. Gehen auf Stelzen und Asphalt, auf Wolken und Datenbahnen, auf Blut- und Eisenbahnen. Am liebsten aber auf Humus. Über Ahornblätter, zwischen Seidelbast und Pfifferling, Saatkrähen rütteln über dem Acker. Sehen und Gehen das verträgt sich nicht, „ain´t looking for nothing in anyones eyes“ sagt Dylan, der Sänger. Nein, das Stehen, das Vergehen, zum Beispiel von Zeit, die weder zu haben noch zu halten ist. Jeder Zeitbesitz ist Täuschung.
Und doch diese Paarung von Feigheit und Erwartung. Das reine Stehen ereignet sich doch. Ereignet sich im Niemandsland. Nur, wer niemand wird, erreicht seine Erde. Vielleicht ist der Gänger auf rosa Landschaft dorthin unterwegs. Zuversichtlich hat der die Schultern hoch und den Kopf eingezogen. Sein Profil ist eine Sandbank im Rosameer. Unentwegt nimmt er irgendwo ab und irgendwo zu. Den Beinen, unter den Achseln, löst er sich auf und bildet sich neu. „Mich wird man nicht mehr sehen, ich werd verschwindend klein“, sagt Mandelstam, der Dichter. „Dort, wo ich nicht bin, ist das Glück“ sagt ein russisches Sprichwort. Das Glück ist im Niemandsland. Dort, wo ich aufhöre, ich zu sein. Dorthin ist der Dünenmann unterwegs. Wird er müde legt er sich auf einer rosa Parkbank nieder.